Vom Autopiloten ins Hier und Jetzt
- Simon Schandl

- 11. Okt.
- 5 Min. Lesezeit
Ich stehe meistens um 05:30 auf. Diese Zeit ist für mich sehr wichtig, denn ich bin am Morgen entspannt, fokussiert und nehme die Dinge intensiver wahr. Alles ist wie in Watte gebettet und völlig friedlich. Als wäre ich am frühen Morgen in einer anderen Realität. Ich stehe also auf und gehe ins Badezimmer. Dort putze ich mir die Zähne, wasche mein Gesicht und trage etwas Gesichtscreme auf. Danach begebe ich mich ins Wohnzimmer, um dort zu meditieren. Warum erzähle ich dir das? Für mich erfordert es am früher Morgen wenig Anstrengung, um wach, ruhig und offen im Hier und Jetzt zu verweilen, denn ich bin noch völlig unbelastet von dem baldig anstehenden Tagwerk. Je nach Typ kannst du auch zu den Morgenmenschen gehören oder vielleicht ein Abendmensch sein. Finde für dich die Zeit, bei der du am einfachsten achtsam sein kannst, denn das hilft dir ungemein mehr innere Ruhe und Gelassenheit in dir zu kultivieren. Aber dazu in einem späteren Blogeintrag mehr.
Was ist Achtsamkeit?
Per Definition verstehen wir unter Achtsamkeit[1] das Bewusstsein und die vollständige Aufmerksamkeit gegenüber gegenwärtigen Erfahrungen. Wie oft bist du im Hier und Jetzt? Nicht leicht zu beantworten, oder? Du kannst dir aber mal folgende Frage stellen: Wie häufig isst du etwas und bist eigentlich gedanklich ganz woanders? Wahrscheinlich sehr oft. Wir lassen uns einfach gerne von unseren Gedanken ablenken. Gerade beim Lesen fällt es mir auch häufig auf. Ich lese eine Seite und weiß schon auf der nächsten gar nicht mehr, was ich eigentlich gelesen habe. Ich lese also nicht wirklich, sondern bin mit meinen Gedanken ganz woanders.
Wir Menschen sind leider geistig oft in der Vergangenheit oder in der Zukunft unterwegs. Den einzig wirklichen Moment – also die Gegenwart – lassen wir ungenutzt verstreichen. Aber eines ist klar: Nur diesen kleinen kostbaren Moment im JETZT haben wir tatsächlich. Gerade in diesem Augenblick liest du diese Zeile. Bist du aber jetzt wirklich gedanklich beim Lesen dieser Zeile oder eigentlich ganz woanders? Hörst du vielleicht nebenbei Musik oder ist es durch andere akustische Quellen laut in deiner Umgebung? Womöglich denkst du auch an einen bevorstehenden Termin. Es gibt unzählige Möglichkeiten, die dich vom Erleben des gegenwärtigen Moments abhalten und wir alle sind (leider) ziemliche Profis darin.
Wäre es aber nicht schön, häufiger im JETZT zu sein? Ja, denn wir alle würden nicht immer wie im Traum durchs Leben laufen, sondern das Leben wirklich LEBEN. Der Schlüssel dafür liegt in der Achtsamkeitslehre.
Der große Achtsamkeitslehrer und emeritierte Professor Jon Kabat-Zinn der University of Massachusetts Medical School sagt, dass man seine Aufmerksamkeit absichtsvoll und nicht wertend auf den gegenwärtigen Moment richten soll.[2] Wir müssen also mit dem JETZT „in Kontakt“ treten. Lass dich dazu auf ein kleines Experiment ein und mach z.B. ein Buch zum Übungsobjekt. Stelle dir folgende Fragen und nimm dir für jede Frage ein paar Minuten Zeit:
Was fühlst du in deinen Fingern, wenn du ein Buch hältst? Konzentriere dich nacheinander kurz auf jeden deiner Finger. Beginnend beim Daumen deiner linken Hand bis zum kleinen Finger deiner rechten Hand.
Rieche mal am Buch. Ist das Buch vielleicht frisch von der Druckerpresse oder riecht es schon etwas älter?
Was hörst du gerade in diesem Moment? Ist es ruhig oder vernimmst du Geräusche?
Du fühlst dich jetzt wahrscheinlich etwas ruhiger, oder? Der Grund ist einfach: Du warst achtsam.
Da wir aber meistens unaufmerksam sind, laufen wir laut Kabat-Zinn meistens im „Autopilotenmodus“ durchs Leben. Situationen werden dabei nur halb bewusst wahrgenommen und die Gegenwart wie im Traum. Es stressen uns auch Situationen, die noch gar nicht eingetreten bzw. die bereits vergangen sind und wir können schwerer flexibel und situativ angemessen auf Ereignisse eingehen.
Kabat-Zinn sagt, dass du daher absichtsvoll den Prozess der Aufmerksamkeitslenkung initiieren musst. Es ist wichtig Achtsamkeit in allen Lebenssituationen zu entwickeln. Das ist aber sehr schwierig, denn unser Geist hat eine Vorliebe für diesen Autopilotenmodus. Diese Muster sind über viele Jahre eintrainiert. Irgendwie musst du dich darauf aufmerksam machen, sodass du immer wieder zurück in den Moment kommst. Wir schaffen es aber mit Leichtigkeit, dass wir das „vergessen“. Womöglich fällt dir erst am Abend ein, dass du ja heute eigentlich Achtsamkeit praktizieren wolltest. Wie kannst du dich aber in regelmäßigen Abständen während des Tagesgeschehens darauf zurückbesinnen achtsam zu sein? Der mittlerweile verstorbene thailändische Zen-Meister Thich Nhat Hanh hat dafür eine wunderbare Methode im bekannten Meditationszentrum Plum Village in Frankreich etabliert. In einem gewissen Rhythmus erklingt ein Gongschlag. Alle Bewohner dürfen dann in ihrer gerade verrichtenden Tätigkeit innehalten und sich für eine kurze Zeit auf das Hier und Jetzt konzentrieren, indem sie auf ihre Atmung achten. Du kannst das auch in deinem Leben umsetzen. Im Grunde musst du dir nur einen Timer mit einem gewissen Intervall auf deinem Smartphone einstellen und das Handy erinnert dich daraufhin immer wieder daran. Später brauchst du das Smartphone dafür nicht mehr, aber für den Anfang ist das eine gute Methode.
Neben dem das du den gegenwärtigen Moment absichtsvoll erlebst, solltest du auch diesen Augenblick nicht werten. Er kann positiv sein. Er kann aber auch genauso negativ sein. Versuche den Moment nicht zu kategorisieren. Nimm ihn wahr, aber bewerte ihn nicht. Er ist nicht positiv. Er ist nicht negativ. Er ist nicht angenehm. Er ist nicht unangenehm. Wenn du das Nicht-werten verinnerlichst, versuchst du nicht mehr unangenehme Situationen von dir „wegzudrücken“. Gleichzeitig wirst du aber auch an positiven Erfahrungen nicht mehr festzuhalten versuchen. Du erfährst sie zwar gerade in diesem Augenblick, aber gleichzeitig erzwingst du nichts mehr. Jetzt kannst du das Hier und Jetzt wirklich erleben. So wie es tatsächlich ist.
Der Begriff Anfängergeist ist ebenso eng mit Achtsamkeit verbunden. In der Literatur wird er oft verglichen mit der Neugier eines Kindes.[3] Ein Kind hat viele Dinge noch nicht erlebt und erfährt sie zum ersten Mal. Dabei erlebt es eine neue Situation vorurteilsfrei und ist fasziniert davon. Wenn du älter wirst, wird diese Art der Wahrnehmung zunehmend schwieriger. Du vergleichst Situationen mit vergangenen Erfahrungen. So könnte es sein, dass du den Frühlingsanfang möglicherweise nicht als das Erwachen der Natur mit seiner wunderschönen Farbenvielfalt und die Vorfreude auf das baldige überreiche Obst- und Gemüseangebot wahrnimmst. Sondern du verbindest ihn mit der Angst vor dem baldig anstehenden Heuschnupfen oder dem ständigen Putzen der Fenster, weil ja der Blütenstaub alle daumenlang diese vollständig zukleistert. Wenn du den Anfängergeist richtig praktizierst, nimmst du Situationen mit einer neugierigen Aufmerksamkeit wahr. Du löst dich von Gewohnheiten und Vorstellungen und erlebst jeden Augenblick, wie er ist: Neu, frisch und einzigartig.
Jetzt hast du viel über Achtsamkeit gelesen. Wie kannst du aber konkret achtsamer werden?
Hier ist Meditation sehr hilfreich.
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Quellen:
[1] Achtsamkeit heißt in der englischen Sprache „mindfulness“.
[2] Vgl. Thomas Heidenreich und Johannes Michalak, „Achtsamkeit“, in Lehrbuch der Verhaltenstherapie: Band 1: Grundlagen, Diagnostik, Verfahren, Rahmenbedingungen, hg. von Jürgen Margraf und Silvia Schneider (Berlin, Heidelberg: Springer, 2009), 569–78, https://doi.org/10.1007/978-3-540-79541-4_35., S. 570.
[3] Vgl. Dirk Stemper, „Achtsamkeit - #3 Den Geist des Anfängers bewahren › Psychologie Halensee“, zugegriffen 1. Februar 2023, https://www.praxis-psychologie-berlin.de/die-7-grundsaetze-der-achtsamkeit-3-anfaengergeist/.





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